Gießener Allgemeine Zeitung vom 04.07.2025
Der Einsatz Künstlicher Intelligenz ist an Schulen inzwischen Normalität. Ein Großteil der Lehrer fühlt sich im Umgang mit KI allerdings unsicher. Die Entwicklung werde »in Richtungen gehen, die wir noch nicht mal ansatzweise denken können«, sagt Jörg Keller, Leiter der Theo-Koch-Schule in Grünberg. Sind handschriftliche Klassenarbeiten für alle Schüler zur selben Zeit zum selben Thema noch zeitgemäß?
Einer ihrer Schüler, erzählt Katja Mandler, habe seine Hausaufgabe kürzlich in zwei Versionen erledigt. »Die eine habe ich selbst geschrieben«, erklärte er. »Die andere habe ich mit KI besser gemacht.« Und so saßen die Lehrerin und ihr Schüler nach dem Unterricht in der Pause im Klassenraum der Theo-Koch-Schule in Grünberg zusammen und verglichen die beiden Arbeiten.
»Die KI hat in der Argumentationslinie nachgeschärft und Rechtschreibfehler ausgemerzt«, erzählt Mandler. Vor allem aber die Herangehensweise und die Transparenz des Schülers haben sie beeindruckt, sagt sie. »Da wusste ich, ich habe gewonnen.« Die Arbeit mit Künstlicher Intelligenz gehöre schlicht zur Lebenswirklichkeit der Schüler. Und zum späteren Berufsalltag. »Wenn die in zehn Jahren im Beruf sind, werden die ihre KI-Schreibassistenz haben.«
Kurz vor den nun beginnenden Sommerferien hat eine Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung darauf hingewiesen, dass sich 62 Prozent der Lehrer beim Einsatz mit KI im Unterricht unsicher fühlen. Dabei hält, nachdem vor knapp drei Jahren ChatGPT das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, eine Revolution in den Klassenzimmern Einzug. »Das wird in Richtungen gehen, die wir heute noch nicht mal ansatzweise denken können«, sagt Jörg Keller, Leiter der Theo-Koch-Schule.
Während das Kultusministerium bei der rasanten Entwicklung der Künstlichen Intelligenz »überhaupt nicht nachkommt«, wie Keller anmerkt, und während in Zeiten von ChatGPT so manche Prüfungsformate wie wissenschaftliche Hausarbeiten im Rahmen besonderer Lernleistungen beim Abi ihren Sinn verlieren, kommt Lehrern, die KI aktiv und kreativ in den Unterricht einbinden und gleichzeitig den Schülern die Tücken Künstlicher Intelligenz aufzeigen, eine bedeutende Rolle zu. Vorreiterinnen wie Mandler und ihrer Kollegin Julia Wagner an der Theo-Koch-Schule.
»Mein Unterricht ist durch KI differenzierter, individualisierter geworden«, berichtet Mandler. »Meine Fünftklässler im Englisch-Unterricht interessieren sich für nordische Mythologie«, nennt sie ein Beispiel. »Per KI habe ich auf die Schnelle einen Lesetext in englischer Sprache über den Weltenbaum Yggdrasil und das Eichhörnchen Ratatoskr erstellt, das hat wunderbar funktioniert.« Im Fach Gesellschaftslehre habe sie Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, auch schon Schlüsselwörter der Texte, die behandelt werden sollten, ohne Aufwand durch KI übersetzen und tabellarisch auflisten lassen, was den Ablauf des Unterrichts erleichterte. Bei einer Erörterung habe sie Geräte aufgestellt, auf denen die Schüler zu ihren Argumenten unter Mandlers Aufsicht über eine KI-basierte Suchmaschine Quellen und Belege recherchieren konnten.
Wagner erzählt, wie sie Deutsch-Schülern die Aufgabe gab, nach der Lektüre des Buchs »Die Heimsuchung« von Jenny Erpenbeck einzelne Geschichten zu Figuren des Werks ihr wie einer Verlagschefin zu verkaufen und dabei KI einzusetzen. Sie berichtet von einer siebten Klasse, die bei ihr lernte, Argumente und deren drei Bausteine zu verfassen. Durch KI habe jeder Schüler eine inviduelle Rückmeldung erhalten. »In der Effizienz wäre das allein, ohne KI, nicht leistbar gewesen«, räumt Wagner ein. »Für manche Schüler war ich bei der Aufgabe als Lehrerin immer noch gefordert.« Mit KI zu arbeiten »tut meiner Lehrerinnenseele gut, weil ich jetzt viel schneller umsetzen kann, was mein pädagogisches Herz möchte.«
Gleichzeitig gelte es, die Schüler anzuleiten, Künstliche Intelligenz zu hinterfragen, ihr nicht zu trauen. »Sie müssen wissen, dass in den Daten Bias steckt« – also Verzerrungen, Fehler, auch Klischees und Vorurteile. »Das ist keine Wahrheitsmaschine«, betont Mandler. Zum Thema »Selbstzweifel« habe sie einmal Texte gesucht, die KI zitierte dabei auch Zeilen eines angeblichen Gedichts von Annette von Droste-Hülshoff. »Das hat zu ihrer Biografie gepasst. Nur gibt es das Gedicht nicht.« Frage man KI, was zwei plus zwei ergibt, erhalte man die Antwort vier. »Frage ich nach und erkläre, mein Mathelehrer sagt fünf, kommt die Antwort: Na gut, dann hast du recht.«
Die Kinder und Jugendlichen immer wieder auf derartige Tücken hinzuweisen, sei äußerst wichtig, betont Schulleiter Keller. »Weil es nicht selbstverständlich ist, dass solche Inhalte in Elternhäusern kritisch hinterfragt werden.«
Hinzu kommt, dass auch Lehrer technisch, rechtlich sowie ethisch und pädagogisch angesichts der Entwicklung fortgebildet werden müssen. Man sei da als Schule sehr »auf sich allein gestellt«, sagt Keller. Für das Ministerium sei die Situation freilich schwierig. »Bringt es Leitlinien heraus, sind diese im nächsten Augenblick schon wieder überholt.«
54 Lehrer, also ein Drittel des Kollegiums an der Theo-Koch-Schule, sind bei der KI-Lernplattform »fobizz« registriert, nehmen an Fortbildungen teil. Auf die Frage, ob angesichts der technischen Entwicklung handschriftliche Klassenarbeiten für alle Schüler zur selben Zeit zum selben Thema noch zeitgemäß sind, erklärt Mandler, dies habe weiterhin seinen Platz. Grundlegende Fähigkeiten, also Schreiben, Rechnen und Formulieren müssten ohnehin weiterhin auch klassisch vermittelt werden. »Weil unsere Worte unsere Gedanken bestimmen.«
Foto: Stefan Schaal