Gießener Allgemeine Zeitung vom 27.01.2022

Holocaust-Gedenken an der Theo-Koch-Schule in Grünberg: Inszenierung »Das Klassenfoto«.© Thomas Brueckner

Aufs Neue ist die TKS Grünberg ihrer Verpflichtung als »Schule gegen Rassismus« gerecht geworden. Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wurde auf beeindruckende Weise an die 42 Juden erinnert, die von 1884 bis 1934 in der Gallusstadt die Schule besuchten. Die Nazis nahmen ihnen ihre Würde, ihre Rechte – in mindestens drei Fällen ihr Leben.

Es ist fast am Ende der Gedenkveranstaltung der Theo-Koch-Schule Grünberg, als Anastasia, Alena, Ariane, Yasmin und Tamara ans Mikro treten. Im Wechsel tragen sie Schnipsel aus dem Leben von Leopold Wertheim vor. Einer der 42 jüdischen Ehemaligen, an die an diesem Morgen erinnert wird, konzipiert von der AG »Schule ohne Rassismus«.

Leopold Wertheim also. 1891 geboren, wuchs er in Londorf auf. Von 1902 an besuchte der Sohn die Höhere Bürgerschule Grünberg. Wie die AG recherchierte, heiratete er Emmy Stern, die ihm 1923 Tochter Ingeborg und 1927 Ruth gebar. Leopold Wertheim sorgte als Kaufmann in Londorf für den Unterhalt der Familie, die ihr trautes Heim in der Kirchstraße 14 hatte. Damit hatte es spätestens ab der Macht-»Ergreifung« Hitlers ein Ende: Wie die Zuhörer der Lesung erfuhren, sahen sich die Wertheims bereits ab April 1933 der Entrechtung und Demütigung ausgesetzt. Für ihr Geschäft im der Kirchstraße 14 hatte die NSDAP schon damals einen Boykottaufruf erlassen.

1942 die Deportation. Leopold, Emmy und Tochter Ingeborg werden in Auschwitz ermordet. Als einzige überlebt Ruth. Nach der Befreiung durch die Sowjets kehrt sie am 5. Mai 1945 in die Rabenau zurück. Das Jahr darauf zieht sie zu Verwandten in den USA, heiratet, bekommt Kinder. Eines nennt sie Lawrence.

1933: Grünberg NSDAP-Hochburg

An diesem 27. Januar 2022 flimmert selbiger nun über die Leinwand der Aula, eine Videobotschaft. Inzwischen 70 und Präsident der Harvard University, würdigt Lawrence Bacow das Engagement der Gesamtschule. Berichtet von der Mutter, die als einzige dem Nazi-Terror entkommen war. Eine glückliche Fügung, der er sein Leben verdanke. Bacow mahnte nun, beim Gedenken an die Opfer der Shoah nicht die Nachkommen zu vergessen.

Mit Hinweis auf den gestern in den USA begangenen Martin-Luther-King-Day schloss er mit dem Appell an die Schüler, im Sinne des Bürgerrechtlers gegen Ungerechtigkeiten jedweder Art aufzustehen. In einer zweiten Lesung lernten die Gäste Edith Buxbaum kennen. Ihr Vater hatte 1915 am Marktplatz 8 in Grünberg eine Arztpraxis eröffnet.

Sein Töchterchen besuchte ab 1921 die Volks-, dann die Realschule. Bis 1930/31, als die Familie nach München verzog. In Italien interniert, überlebten sie den Terror. Die Buxbaums waren damals die einzigen Juden in Grünberg, bereits seit dem späten Mittelalter gab es dort keine »israelitische« Gemeinde mehr.

Nach Recherchen der unter anderem von der Lehrerin Rebecca von Meyerinck betreuten Schüler-AG waren 1931 nur sieben der 329 Realschüler jüdischen Glaubens. 1934 verließ mit Hermann Roth (Nieder-Ohmen) der letzte Grünbergs »Höhere Schule«.

Nicht minder beeindruckend war die Inszenierung »Das Klassenfoto«: Schülerinnen stellten nach, wie es einem mit dem gelben Stern stigmatisierten Mädchen ergangen sein mag, das auf die Bitte nach Hilfe sich anhören musste: »Das sind halt die Zeichen der Zeit.« Live-Musik, das Verlesen der Namen der 42 Ehemaligen sowie Vorträge zum jüdischen Leben in Oberhessen – dazu nur dies: 1933 errang die NSDAP in Grünberg 70 Prozent, rund 20 Punkte über dem landesweiten Ergebnis – rundeten die Veranstaltung ab.

Begonnen hatte die se mit Grußworten. TKS-Direktor Jörg Keller betonte, dieser Gedenktag diene dem Erinnern an die Verbrechen der Nazis. Aber auch dazu, auf aktuelle Tendenzen von Antisemitismus, Fremden- und Menschenfeindlichkeit hinzuweisen. Und mit Blick auf die 42 Ehemaligen: »Sie waren Kinder wie ihr, die sich auf einen Beruf freuten, Familien gründen wollten, dazugehörten. Eine furchtbare Ideologie aber hat all ihre Träume zunichte gemacht.«

Der Gefahr begegnen, dass die Erinnerung an die Verbrechen verblasst, forderte Schuldezernent Christopher Lipp. Da mehr und mehr Zeitzeugen verstummten, sei es wichtig, »der Geschichte ein Gesicht zu geben«, persönliche Schicksale zu schildern. Von daher sei dieses Gedenken mit der Erinnerung an die jüdischen Schüler umso mehr zu würdigen.

Beschämend nannte es Lipp, dass heute Juden in Deutschland wieder Beschimpfungen, Übergriffe und Gewalt erleben müssen.

Sehr persönliche Worte wählte Dow Aviv (69), Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Gießen. Erzählte er doch, wie er von Schreien des Vaters aufgeweckt wurde, wenn dieser von Albträumen geschüttelt wurde. Lange habe er darauf keine Antwort erhalten. Erst mit den Interviews, die Steven Spielberg mit dem Vater und anderen Shoah-Überlebenden führte, habe sich das geändert. »Er war erleichtert, endlich jemandem zu haben, der einfach nur zuhört.«

Ein Rat, den Aviv den Pennälern mitgab, wenn sie mit ihren Großeltern über diese Zeit sprechen wollten.

»Ohne die Erinnerung, Beschäftigung mit der Vergangenheit wird es uns nicht gelingen, eine Zukunft in Freiheit, Toleranz und Respekt zu gestalten«, lautete dann der Appell Avivs. Indem er das jüdische Totengedenken sprach, fand das gelungene Gedenken einen würdigen Abschluss.