Gießener Allgemeine Zeitung vom 19.11.18

An vielen Orten brannten am 9. November 1918 die Synagogen, wurden jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe zerstört, Menschen inhaftiert. Auch in Laubach. Die Theo-Koch-Schule gedachte soeben dieser Ereignisse mit einer Lesung aus den Tagebüchern des Laubacher Justizinspektors Friedrich Kellner. Dr. Markus Roth von der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur der JLU Gießen, Mitherausgeber der Tagebücher, las einige Einträge aus den Jahren 1939 bis 1945. Michael Schmitt hatte mit Geschichtskursen der Oberstufe eine Ausstellung zu den Novemberpogromen im Kreis Gießen vorbereitet.

»Angesichts von Islamfeindlichkeit, Antisemitismus und zunehmender Demokratiefeindlichkeit ist das bewusste Erinnern eine wichtige Aufgabe«, betonte Oberstufenleiter Marcel Jochim in seiner Begrüßung. Martin Huscher von der Fachschaft Geschichte, die die Veranstaltung organisiert hatte, zitierte Zuckmayers Diktum vom »Hexensabbat des Pöbels«, das dieser in Bezug auf den ›Anschluss‹ Österreichs geprägt hatte. »Die antisemitischen Ausschreitungen der Novemberpogrome waren eine Kombination aus zentral gesteuerter Gewalt und antisemitischen Leidenschaften: Ich frage mich: Warum sahen die Leute zu?«. Einer, der zumindest nicht weggesehen hat, war Friedrich Kellner. Der notierte Äußerungen von Mitbürgern ins Tagebuch, kommentierte kritisch die Propaganda der Nazi-Presse, wenn es etwa um die Verluste der Feinde und der Wehrmacht ging.

»Abgeschoben« – wohin?

Roth zitierte den Eintrag vom 28. Juli 1941: »Die ›Heil- und Pflegeanstalten‹ sind zu Mordzentralen geworden. Wie ich erfahre, hatte eine Familie ihren geistig erkrankten Sohn (…) zurückgeholt. Nach einiger Zeit erhielt sie von der Anstalt eine Nachricht des Inhalts, daß ihr Sohn verstorben sei und die Asche ihnen zugestellt werde! Das Büro hatte vergessen, den Namen auf der Todesliste zu streichen. Auf diese Weise ist die beabsichtigte vorsätzliche Tötung ans Tageslicht gekommen.« 1939 bis 1943, so weiter der Mitherausgeber der Tagebücher, wurden 70 000 Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen ermordet. »Die Öffentlichkeit wusste davon.« Im Oktober 1941 berichtete ein Soldat auf Urlaub Kellner von Grausamkeiten im besetzten Polen. »Er hat gesehen, wie nackte Juden und Jüdinnen, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden u. in den Graben fielen. Der Graben wurde dann zugeschaufelt. Aus den Gräbern drangen oft noch Schreie!!« Am 16. September 1942 schrieb Kellner über den Abtransport der Juden. »Aus Laubach waren es die Familien Strauß u. Heinemann (…) Von gut unterrichteter Seite hörte ich, daß sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS-Formationen ermordet würden.« Mit diesem Wissen schrieb der Justizinspektor am 25. September 1942 neben einen Zeitungsbericht, wonach von 80 000 Juden 65 000 ›abgeschoben‹ worden seien, lakonisch: »Wohin?«

Stimmen aus den Lagern und von Verfolgten des NS-Regimes erklangen im Anschluss in den Liedern der Oberstufenschüler, darunter »Die Moorsoldaten«. Chorleiter Hermann Wilhelmi schloss mit den Worten: »Wir leben schon lange im Frieden, und wir sollten alles tun, damit das so bleibt.«