Gießener Anzeiger vom 13.10.2021, S. 28

V.l.: Dieter Reichel mit den TKS-Projektteilnehmerinnen Ifa Göpfert und Emily Salepa, die die Stolpersteine der Familie Stern aus Nieder-Ohmen reinigen. Foto: Titz

Projektgruppe der Theo-Koch-Schule besucht Nieder-Ohmen zur Auseinandersetzung mit der regionalen jüdischen Geschichte

GRÜNBERG (red). Das Edikt des Kaisers Konstantin vom 11. Dezember 321 belegt: Seit mindestens 1700 Jahren leben Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Auch im ländlichen Oberhessen gab es bis zur Schoah zahlreiche jüdische Siedlungen. Inspiriert von diesem Jubiläum hat Lehrerin Christina Müller von der Theo-Koch-Schule (TKS) eine Projektgruppe ins Leben gerufen. Das Projektziel ist die Auseinandersetzung mit der regionalen jüdischen Geschichte am Beispiel von Fritz Moritz Stern.

Moritz Stern, genannt Fritz, wurde 1893 in Nieder-Ohmen geboren, besuchte in Grünberg die Höhere Bürgerschule und machte sein Abitur in Gießen. Sein naturwissenschaftliches Studium wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Nach Examen und Promotion arbeitete er in der chemischen Industrie, heiratete und wurde Lehrer in Berlin, wo eine Tochter geboren wurde.

Als Jude aus dem Schuldienst entlassen, emigrierte Fritz Stern mit seiner Familie 1933 nach Istanbul, wo sein Cousin Julius Stern, ebenfalls aus Nieder-Ohmen, bereits seit 1929 als Lehrer arbeitete. Dort ernährte er seine Familie mühsam mit Privatstunden und Lehraufträgen an türkischen Schulen. Als jüdische Deutsche waren die Stern-Cousins starken Repressalien durch die Auslandsvertretung des Deutschen Reiches ausgesetzt, sie wurden überwacht und schikaniert. Nach dem Krieg blieb Julius Stern in der Türkei, während Fritz nach Deutschland in den Schuldienst zurückkehrte. Als Oberstudienrat und später Schulleiter in Darmstadt setzte er sich für demokratische Bildung und den jüdisch-christlichen Dialog ein. Bereits erkrankt aus dem Exil zurückgekehrt, starb Fritz Moritz Stern 1964 in Darmstadt.

In der TKS-Wanderwoche widmeten sich die Teilnehmerinnen der Grünberger Projektgruppe der ersten Station in Sterns Lebenslauf. Dafür brauchten sie nur drei Bahnhalte weiter nach Nieder-Ohmen zu fahren, wo sie Dieter Reichel trafen, früher Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts und Bekannter des 1994 in Istanbul verstorbenen Julius Stern. Der 82-Jährige hatte sich Zeit genommen, um der Projektgruppe jüdische Orte in Nieder-Ohmen zu zeigen. Mit hervorragendem Gedächtnis erzählte er, wo früher jüdische Familien gewohnt und welche Berufe sie ausgeübt hatten, und machte aufmerksam auf die 2012 verlegten „Stolpersteine“. Sie erinnern an sechs Angehörige der weitverzweigten Nieder-Ohmener Familie Stern, die in Theresienstadt und Minsk ermordet wurden oder verschollen sind, darunter zwei Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren und ein einjähriges Baby. Anschließend zeigte Dieter Reichel das Haus, in dem die Synagoge untergebracht war und in dem er bis vor Kurzem selbst gewohnt hat. Er wusste zu berichten, dass die Inneneinrichtung des Betraumes bereits 1935 demoliert wurde, also drei Jahre vor der von den Nationalsozialisten inszenierten Reichspogromnacht.

Nach Udo Ornik, Autor eines Aufsatzes zum Nationalsozialismus in Nieder-Ohmen, ist dies ein Beispiel für die starke Zustimmung zur NS-Ideologie und den tief sitzenden Antisemitismus gerade im ländlichen Raum. Weitere Stationen der Projektgruppe waren das Häuschen für das rituelle Tauchbad und der jüdische Friedhof, vor dem zur 1200-Jahrfeier des Dorfes eine Tafel zur Erinnerung an die in der Schoah umgekommenen jüdischen Einwohner angebracht worden war.

Die Projektgruppe setzt mit ihrer Arbeit zu Fritz Moritz Stern eine Initiative von zehn TKS-Schülern fort, die im letzten Schuljahr Abitur gemacht haben. Sie hatten einen Instagram-Account gestartet, in dem Biografien von jüdischen Grünberger Ehemaligen und jüdische Gedenkorte vorgestellt werden. Damit haben sie einen eigenständigen Beitrag zur Erinnerungskultur geleistet und die Weiterarbeit an diesem wichtigen Thema inspiriert.