Gießener Allgemeine Zeitung vom 27.11.2021, S. 37
Von Thomas Brückner
2019 erschüttert ein antisemitischer Vorfall die Theo-Koch-Schule Grünberg: Ausgerechnet auf dem Heimweg von einer Exkursion ins KZ Buchenwald spielten drei 14-Jährige Lieder einer Neonazi-Band ab. Die Polizei ermittelte wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Die Aufarbeitung des Vorfalls durch die TKS nennt Hessens Antisemitismusbeauftragter Uwe Becker vorbildhaft.
Nachgefragt bei Schulleitung und Schülern.
Nur wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder vollkommen zu Hause sind, sich vollkommen sicher fühlen, nur dann ist Deutschland ganz bei sich. Wir dürfen in Deutschland keinen Antisemitismus dulden!« Klare Worte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die er vorige Woche zur Verleihung der Leo-Baeck-Medaille wählte.
Zugleich ein Appell, den sich die TKS Grünberg schon vor 25 Jahren zum Leitbild genommen hat: Damals trat man dem Netzwerk »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« bei. Ein Verdienst vor allem der damaligen Schulpfarrerin Ilse Staude, wie Direktor Jörg Keller hervorhebt (siehe Zusatzelement).
Im Gespräch mit dieser Zeitung geht es um jene Tage im November 2019, als der antisemitische Vorfall auf der Buchenwald-Exkursion seine Schule in die bundesweiten Schlagzeilen brachte. Keller sah sich mit Presseanfragen fast im Minutentakt und reißerischen, die Wahrheit nicht so ernst nehmenden Artikeln des Boulevard konfrontiert.
An den Vorfall erinnert wurde auch bei einem Pädagogischen Tag an der Gesamtschule. Thema der Fortbildung: »Erscheinungsformen des Antisemitismus in unserer Gesellschaft und der Umgang damit an Schulen«.
Die TKS hatte sich dafür externe Expertise gesichert, darunter Mitarbeiter der vom Land eingerichteten pädagogischen Fachstelle Rechtsextremismus »Rote Linie«. Nicht der erste Kontakt mit den Marburgern. Waren sie doch in die Aufarbeitung des Vorfalls 2019 eingebunden: Zu den Auflagen, die den Schülern als Bedingung für eine Einstellung des Verfahrens gemacht wurden, zählten auch Gespräche mit der »Roten Linie«.
Den Pädagogischen Tag nahm Hessens Antisemitismusbeauftragter Uwe Becker zum Anlass, den Umgang der Grünberger mit dem Geschehen 2019 zu würdigen. »Diese Schule hat sich nicht weggeduckt oder weggesehen. Leitung und Kollegium haben Haltung gezeigt und sind offensiv mit dem Abspielen judenfeindlicher Lieder nach dem Gedenkstätten-Besuch umgegangen.«
Auch habe die TKS ein umfassendes Programm, von den historischen Wurzeln des Antisemitismus über die Schnittmengen von Verschwörungstheorien und Judenhass bis hin zu Antisemitismus im Sport, entwickelt. »Engagement gegen Antisemitismus muss Teil unseres täglichen Handelns werden. Dass dieses Verständnis vor Ort so besonders gelebt wird, stimmt auch und gerade nach einem solchen Vorfall optimistisch«, meinte Becker.
Dass sich dieses Engagement im Lehrplan widerspiegele, betont wenige Tage später Keller im GAZ-Gespräch: »Jede Schule hat ihre Kultur, an der allerdings gilt es ständig zu arbeiten.« Also Flagge zeigen. Der heute wieder drohenden Gewöhnung an Rassismus entgegentreten. »Gegen das Banale von Diskriminierung im Alltag angehen«, wie es der Direktor fasst. Gerät Schule dabei nicht in Konflikt mit dem hohen Gut der Toleranz? »Nein«, unterstreicht der Pädagoge: »Wir müssen Grenzen aufzeigen, tolerant kann nur sein, wer diese kennt.«
Nochmals auf die Aufarbeitung des Vorfalls angesprochen, verweist Keller neben der Behandlung des Antisemitismus in PoWi, GL oder Geschichte auf die eigenen Exkursionen nach Buchenwald oder die des Kreises nach Auschwitz (»stellen immer das größte Kontingent«). Oder auf Vorträge wie den eines Frankfurter Rabbis, bei dem die Schüler sozusagen aus erster Hand einen Eindruck von Alltagsrassismus erhielten.
Als neues Format lud man sich jüngst zwei jüdische Studentinnen ein – Motto: »Meet a Jew«. Erwähnt sei ferner das neue Unterrichtsprojekt »Jüdische Schüler in Grünberg«. Darunter Edith Buxbaum, deren Familie, wohl als letzte, 1930 nach München verzogen war. Oder Fritz Stern aus Nieder-Ohmen, der das damalige Realgymnasium besuchte.
Was das stete Arbeiten an einer antirassistischen Kultur betrifft, darf das Engagement der Schüler nicht vergessen werden. Etwa 20 Kinder und Jugendliche aus allen Jahrgangsstufen gehören zur Gruppe »Schule ohne Rassismus«. Was ist ihre Motivation, was erhoffen sie sich?
Allen Antworten der Pennäler in der Gesprächsrunde ist gemein: Jeglicher Art von Diskriminierung gilt es entgegenzutreten. Das beginne schon beim Mobbing von Mitschülern, die sich keine Markenklamotten leisten können. Oder eine dunkle Hautfarbe haben, oder als Migranten nach Grünberg kamen. »Keiner kann doch etwas dafür, jeder sollte sich frei entfalten können. Wie mögen sie sich fühlen?«, sind sich Lara-Luise und Eva einig, Es sei wichtig, die Menschen darauf aufmerksam zu machen. Alexander verweist auf Whats-App-Gruppen, in denen rassistische Sticker mit Corona-Bezug kursieren. Mit Ausnahme besagter Referenten haben diese Schüler bisher keine Juden kennengelernt. Was sie aber nicht daran hindert, im Bewusstsein der Geschichte eine klare Haltung wider Antisemitismus und Nazismus einzunehmen.
Bei einigen gesellen sich persönliche Erfahrungen hinzu: Bei Alena ist es der Opa, der ihr von einem Überlebenden eines KZ erzählte, bei Tamara die Studienfahrt nach Auschwitz. »Das darf niemals in Vergessenheit geraten«, lautet ihre Mahnung. Dem ist nichts hinzuzufügen.
INFO
TKS: „Schule ohne Rassismus“ seit 1996
Schule ohne Rassismus-Schule mit Courage Ist ein bundesweites Schulnetzwerk. Eine Selbstverpflichtung. Im geheimer Abstimmung müssen mindestens 70 Prozent der Mitglieder der Schulgemeinde erklären: „ Ich werde mich aktiv gegen Diskriminierungen, insbesondere Rassismus, einsetzen.“ Die Theo-Koch-Schule trat als erste Schule Hessens 1996 dem Netzwerk bei – In einer Zeit, da Brandanschläge wie in Solingen, Mölln oder Rostock die Gefahr von Rechts ins Bewusstsein gerückt hatten. Und es auch im Grünberger Raum ausländerfeindliche Vorfälle gab, erinnert sei an den Übergriff auf ein Asylbewerberheim In einem Stadtteil. Zur Verleihung des Prädikats an die TKS erschien Berthold Herpe an der Gesamtschule. Ein Jude, der 1939 vor den Nazis fliehen musste und eine neue Heimat in San Francisco fand. „Ich hätte nicht geglaubt, jemals wieder deutschen Boden zu betreten“, erzählte der damals 86-Jährige den Schülern. 1970 aber war es dann doch erstmals soweit gewesen, dabei traf er Ilse Staude wieder. Die damalige Schulpfarrerin der TKS war ein Nachbarkind der Familie Herpe gewesen.