Gießener Anzeiger vom 16.11.2021, S. 32
Walter Rothschild spricht vor Schülern der Theo-Koch-Schule Grünberg
Grünberg (red). »Ich will nicht, dass ihr Mitleid habt mit meiner Familie – ich will euch ins Nachdenken bringen.« Das wünschte sich Walter Rothschild von den Schülerinnen und Schülern der Theo-KochSchule (TKS), wo er anlässlich der »Veranstaltungen zum 9. November« zu Gast war.
Rothschild, gebürtiger Engländer mit Wohnsitz in Berlin, ist freischaffender Rabbiner für liberale jüdische Gemeinden, promovierter EisenbahnHistoriker und als Musiker, Kabarettist und Vortragsreisender in ganz Europa unterwegs. Moderiert wurde die Begegnung von Michael Schmitt, Sprecher der Fachschaft Geschichte.
Eine neunte Klasse und ein PoWi-Oberstufenkurs hatten Fragen vorbereitet, die Schulband steuerte zwei Songs bei. Pointierte Zitate, gefunden auf der Homepage zum 1700-jährigen Jubiläum jüdischen Lebens in Deutschland, wurden von der Technik-AG auf die Bühne projiziert.
Mehr als 600 Jugendliche und junge Erwachsene – im ersten Durchgang des Doppeljahrgangs 9/10, anschließend die gesamte Oberstufe – hörten aufmerksam zu, wie der Rabbiner aus seinem Leben erzählte und aufrüttelnde Bezüge zwischen Zeitgeschichte und Gegenwart herstellte. In seiner Anmoderation erinnerte Michael Schmitt zunächst an den doppelten Aufforderungscharakter des »deutschen Tages« 9. November: Einerseits müssten die Errungenschaften und Werte der ersten deutschen Demokratie (1918) und der deutschen Wiedervereinigung, die mit dem Mauerfall 1989 begann, mutig verteidigt werden; andererseits gelte es, die brutale Ideologie zu durchschauen, die über die »Reichspogromnacht« 1938 zur Vernichtung der europäischen Juden geführt hat. Mit den Hintergründen zum 9. November leitete Walter Rothschild anschließend seinen Vortrag ein: Das Attentat auf den deutschen Botschafter in Paris, für das NS-Regime ein willkommener Vorwand für den inszenierten Terror des Novemberpogroms, hatte der polnisch-jüdische Emigrant Herschel Grynszpan aus Wut über die Zwangsabschiebung seiner Eltern begangen.
»Ihr seid die Wähler von morgen. Ihr könnt entscheiden, ob Immigration etwas Gutes oder Böses ist. Und denkt daran: Flüchtlinge waren in der Geschichte oft die intelligentesten Menschen. Die Gesellschaften, in die sie eingewandert sind, haben ihnen viel zu verdanken«, rief Rothschild den Schülern zu.
Erfahrungen von Verfolgung und Flucht prägen auch die Familiengeschichte von Walter Rothschild. Seine Großmutter war aus dem weißrussischen Witebsk nach England geflohen. Sein Opa stammte aus Riga, wanderte von England nach Kanada aus und kämpfte an der französischen Front im Ersten Weltkrieg. Sein Großvater väterlicherseits – Walter Rothschild ist nach ihm benannt – war Jurist und Landgerichtsrat in Hannover. Durch das nationalsozialistische »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« verlor er 1933 seine Stelle und zog mit seiner Familie zu Verwandten nach Baden-Baden. Nach dem Novemberpogrom wurde er im Konzentrationslager Dachau inhaftiert, zur Arbeit gezwungen und gefoltert. 1950 starb er in der Schweiz als Staatenloser an den Spätfolgen dieser Misshandlungen. »Ich bin mal mit der Deutschen Bahn nach Dachau gefahren, wollte mir das anschauen«, erzählte Walter Rothschild. »Am Bahnhof das Schild: ›Herzlich willkommen in Dachau‹. Und ein bisschen kleiner daneben: ›Gedenkstätte‹. Ich ging zur Gedenkstätte und machte Fotos. Es war früh am Morgen, ein Gedenkstättenmitarbeiter kam: ›Was wollen Sie hier?‹ ›Ich will Fotos machen, mein Großvater war hier im KZ‹, antwortete ich. ›Sie müssen das Gelände verlassen‹, sagte der Mitarbeiter. ›Wir haben noch nicht geöffnet‹. – Ich, Walter Rothschild Junior, bin wahrscheinlich der einzige Jude, der jemals aus einem deutschen KZ ausgewiesen wurde.«