Gießener Allgemeine Zeitung vom 10.03.2022

TKS-Schüler stellen dem Havard-Präsidenten Lawrence S. Bacow in einer Videokonferenz Fragen, die sie zuvor gesammelt haben.© pv

Grünberg (pm). »Das ist das Einzige, was zwischen uns und dem nächsten grauenhaften Ereignis in unserer Gesellschaft steht: Wenn gute Menschen, gute Menschen wie ihr, bereit sind, aufzustehen und gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen.« Mit diesem Appell beendete Lawrence S. Bacow, Umweltökonom, Jurist und Präsident der Universität Harvard in Massachusetts, seine Videobotschaft an die Theo-Koch-Schüler.

Die TKS-Projektgruppe »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« hatte jüdische Ehemalige der Grünberger Höheren Schule vorgestellt und von ihrer Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung in den Gettos und Todeslagern der Nazis berichtet. Einer dieser Grünberger war Leopold Wertheim, geboren 1891 in Rüddingshausen. Er wurde in Auschwitz ermordet, ebenso wie seine Frau Emma und ihre gemeinsame Tochter Inge. Die jüngere Tochter Ruth überlebte das Vernichtungslager, fand Zuflucht in den Vereinigten Staaten und heiratete Mitchell Bacow. Das Paar bekam zwei Kinder: Elaine und Lawrence Bacow, benannt nach ihren Großeltern Emma und Leopold.

Lawrence Bacow hatte angeboten, zusätzlich zu seiner Videobotschaft am jüngsten Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus mit den Theo-Koch-Schülern online zu konferieren. Dass dieses Gespräch dann kurz später tatsächlich zustande kam, wurde von allen Beteiligten als großes Privileg betrachtet.

Der Politikwissenschafts- und der Geschichtskurs der Jahrgangsstufe 13, geleitet von Christine Harthun und Martin Huscher, hatten Fragen gesammelt.

Als Mitglied der »Schule ohne Rassismus«-Gruppe stellte Schülerin Ayla das Projekt vor und fragte Bacow, was es bedeute, ein guter Mensch zu sein. »Ungerechtigkeit schlägt dort Wurzeln, wo gute Menschen bereit sind, wegzuschauen«, antwortete der Harvard-Präsident »Wir müssen unsere Lektionen aus der Geschichte lernen, damit sie sich nicht wiederholt. Es geht nicht nur um den Holocaust.« Sein Land habe immer noch mit den Folgen der Sklaverei zu kämpfen. »Immer noch sehen wir überall Diskriminierung – wir müssen Verantwortung übernehmen, müssen denen eine Stimme geben, die keine Stimme haben.«

Sogar in einem kleinen Dorf wie Londorf, so Bacow weiter, habe es Beispiele für Menschen gegeben, die sich selbst in Gefahr brachten, um anderen zu helfen. Er erinnerte an den Brief, den seine Mutter im Jahr 1991, drei Jahre vor ihrem Tod, an die Historikerin Monica Kingreen geschrieben hatte. Darin berichtet Ruth Wertheim von einem Londorfer Mühlenbesitzer, der seinen hungernden jüdischen Nachbarn Säcke mit Mehl brachte. Er wurde denunziert, die Wertheims sahen ihn nicht wieder. »Wenn wir in unsere Welt schauen, können wir solche Beispiele finden. Solchen Menschen müssen wir Applaus spenden, sie müssen wir hervorheben.«

Auf die Frage des Schülers Philipp, ob er selbst schon Antisemitismus erlebt habe, erzählte Bacow eine Geschichte, die die Zuhörenden betroffen machte: »Ich bin in Michigan aufgewachsen, einer Stadt mit einer kleinen jüdischen Gemeinde. Als Kind wurde mir das Gefühl gegeben, ich sei anders. Das ist für niemanden leicht, denn jeder will dazugehören. Für meine zwei Jahre ältere Schwester war es allerdings noch schwieriger: Als High-School-Studentin wollte sie einer Studentinnen-Verbindung beitreten, in die man gewählt werden musste. Dieser Klub hatte noch nie jüdische oder schwarze Mädchen aufgenommen. Mein Vater, ein Anwalt, erklärte dem Ausschuss, dass es illegal sei, nach Rasse oder Religion zu unterscheiden. Er forderte, der Klub solle sich für alle Studentinnen öffnen oder ganz geschlossen werden. Das Schulkomitee entschied, den Klub zu schließen. Das war 1963, das ist nicht lange her.«

Schülerin Emilia wollte wissen, welchen Einfluss die Geschichte seiner Mutter auf ihn gehabt habe. Bacow sagte unter anderem, seine Mutter habe ihre Kinder ermutigt zu tun, was immer wir wollten. Er erzählte, als Achtzehnjährige habe sie ganz allein in Londorf gelebt. »Ihre Schwester, ihre Eltern, ihr Großvater, alle Juden in ihrer Heimat – waren weg. Hitler hatte ihr alle Menschen geraubt, die sie liebte. Aber sie traf eine bewusste Entscheidung: Sie konnte wütend und bitter sein für den Rest ihres Lebens, oder sie konnte das Leben in vollen Zügen genießen. Dafür entschied sie sich, und das war ihre Rache an Hitler.«

Von Schülerin Juliane nach seiner Beziehung zu Deutschland gefragt, erzählte Mr. Bacow, »im Jahr 1965, als ich 14 Jahre alt war, besuchten wir Deutschland und Londorf. Dieser erste Besuch war sehr schwierig«. Denn seine Mutter erkannte den Mann, der alle Juden des Dorfes identifiziert hatte, um sie auf die Deportationsliste zu setzen.

Deutsch habe er nicht gelernt – aus Respekt vor seiner Mutter, die außer Tante und Onkel – Thekla und Max Adler aus Londorf -, keine deutschen Verwandten mehr hatte und wünschte, dass ihre Kinder als assimilierte Amerikaner aufwachsen.