Der Musiker Lidor Mesika zu Besuch an der Theo-Koch-Schule

Es war ein trauriger Jahrestag, an dem Lidor Mesika in Grünberg zu Gast war. Vor genau einem Jahr, am 24. Februar 2022, hatte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen. Daran erinnerte Schulleiter Jörg Keller, als er den 23-jährigen Musiker an der Theo-Koch-Schule willkommen hieß. Etwa 70 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 12 hatten sich im Oberstufengebäude versammelt, um mit dem israelischen Gast ins Gespräch zu kommen. „Der Jahrestag des russischen Angriffskriegs lässt uns erkennen, wie bedroht unsere Freiheit ist und wie wichtig es gerade jetzt ist, für ein friedliches und tolerantes Miteinander einzutreten“, sagte Jörg Keller in seinem Grußwort. „Seit 1996 gehört die Theo-Koch-Schule zum Netzwerk ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘. Antisemitismus ist eine hässliche Spielart des Rassismus, und es gibt eine Judenfeindlichkeit, die sich als Israelkritik tarnt. Umso mehr freue ich mich über unseren heutigen Gast aus Israel. Persönliche Kontakte sind die beste Möglichkeit, um Vorurteile abzubauen.“

Der Countertenor und Bariton Lidor Mesika steht kurz vor seinem Bachelor-Abschluss an der Jerusalem Academy für Musik und Tanz. Seine Studienschwerpunkte sind klassischer Gesang und Komposition, sein Lieblingsgenre ist die Oper, seine Leidenschaft – das wurde bei der Begegnung mehr als deutlich – ist die verbindende Kraft der Musik. Das letzte Semester hat Lidor Mesika als Erasmus-Stipendiat an der Musikhochschule Leipzig verbracht – der kälteste Winter seines Lebens, wie er augenzwinkernd kommentierte. Seine sephardisch-jüdischen Großeltern waren in den 1960er Jahren aus dem Iran und aus Libyen nach Israel eingewandert. Geboren und aufgewachsen ist er in Netanya, einer multikulturellen Stadt mit mehr als 200.000 Einwohnern und subtropischem Klima an der israelischen Mittelmeerküste. Seit 1978 ist Netanya die Partnerstadt von Gießen – eine der ersten deutsch-israelischen Städtepartnerschaften überhaupt –, seit 1996 kümmert sich der Partnerschaftsverein Gießen-Netanya um die Kontaktpflege zwischen den Kommunen. Als Mitglied des Nizan-Chors aus Netanya, der inzwischen schon einige Male in Gießen aufgetreten ist, kam Lidor Mesika im Alter von 16 Jahren zum ersten Mal nach Deutschland.

Marion Balser aus Reiskirchen, die langjährige Vorsitzende des Partnerschaftsvereins Gießen-Netanya, hatte den Kontakt zwischen dem israelischen Musiker und der Theo-Koch-Schule vermittelt. Zusammen mit den Vereinsmitgliedern Hannelore Kraushaar-Hoffmann und Mathias Weidenhagen war sie nach Grünberg gekommen, um für das deutsch-israelische Projekt zu werben. „Die Anregung für die Städtepartnerschaft kam von Dr. Abraham Bar Menachem, dem damaligen Oberbürgermeister von Netanya“, erklärte sie in ihrem Grußwort. „Er wurde als Alfred Gutsmuth in Gießen-Wieseck geboren, machte sein Abitur an der Liebigschule, studierte an der Gießener Universität Rechtswissenschaften und musste als Jude musste vor den Nazis fliehen. Der damalige hessische Ministerpräsident Albert Osswald, ein Freund Guthsmuths, unterstützte das Projekt ebenfalls. Er war der Meinung: ‚Es muss wieder Freundschaft entstehen zwischen Deutschen und Israelis‘.“

Freundschaftlich, respektvoll und auf Augenhöhe – so verlief auch der Dialog zwischen dem jungen Israeli und den Pennälern. Mit seiner ersten musikalischen Darbietung – „Gole sangam“, einem persischen Liebeslied – verknüpfte Lidor Mesika Erinnerungen an seine aus dem Iran stammende Großmutter. Er erzählte von den ‚trills‘ im arabischen Gesang – auf Hebräisch ‚silsulim‘ genannt –, den bunten Farben und aufregenden Geschmäckern des persischen Essens, seiner religiösen Erziehung, die er hinterfragte, von der Reaktion seiner Eltern und Großeltern, als er ihnen eröffnete, dass er nicht Mathe oder Physik studieren wollte, wie sie es sich erhofft hatten. „Sie fragten mich: ‚Wenn du schon Musik studieren musst, warum dann ausgerechnet Oper?‘ Die Antwort ist einfach: Bei der Oper kommen alle Künste zusammen: Orchester, Gesang, Schauspiel, Kostüme. Das liebe ich einfach. Als wir in Jerusalem Mozarts Zauberflöte aufführten und ich die Rolle des Papageno sang – das war mein persönliches Highlight.“

In Israel, so erfuhren die Zuhörer, sind 20 Prozent der Bevölkerung arabisch. „Mit dem Arab Jewish Orchestra, bei dem ich Mitglied bin, führen wir Konzerte in ganz Israel auf, sowohl in jüdischen als auch in arabischen Städten“, berichtete Lidor Mesika. „Die Musiker sind multikulturell, genauso wie ihre Instrumente. So erklingt zum Beispiel die Oud, die arabische Laute, zusammen mit der klassischen Violine. Das ergibt einen ganz besonderen Sound.“ Zur Demonstration spielte er einen Videoclip vor: eine Interpretation des populären Songs ‚Autumn Leaves‘ von Joseph Kozma durch das Arab Jewish Orchestra. Die Aufnahmen wurden 2021 am Strand von Jaffa gemacht, das Arrangement stammt von dem arabischen Dirigenten und künstlerischen Leiter Nizor Elkhater, Lidor Mesika und sein arabischer Kollege Akram Odeh singen die Lyrics abwechselnd in Französisch, Arabisch und Englisch.

Mit einer englisch-hebräisch-spanischen Version von Leonhard Cohens ‚Hallelujah‘, bei dessen Chorus das Publikum einstimmte, verabschiedete sich der israelische Musiker von den Oberstufenschüler:innen. Weiter ging es zwei Etagen tiefer in der Bibliothek, wo Lidor Mesika die Spanisch- und Lateinlernenden der Jahrgangsstufe 9 traf. Bei dieser Begegnung, die wie zuvor von großer Offenheit und gegenseitigem Respekt geprägt war, zeigte das Sprachtalent mit dem spanischen Tango ‚Por una cabeza‘ und dem Ladino-Song ‚Puncha, puncha, la rosa huele‘  weitere Facetten seines Könnens. Bei der Erklärung, wie das Ladino entstanden war, musste Lidor Mesika weiter ausholen: „Im Mittelalter gab es in Spanien ein blühendes jüdisches Leben. Die Juden, die im Jahr 1492 von der Inquisition vertrieben und in alle Welt zerstreut wurden, sprachen Hebräisch und Castellano. An ihren Exilorten – in Italien, Bulgarien, Griechenland, der Türkei – nahmen sie Elemente der Landessprachen auf. So entstanden die verschiedenen Varianten des Ladino.“

Das Judäo-Spanische überlebte den Holocaust nicht. Im Jahr 1943 wurden allein im griechischen Saloniki 43.850 Jüdinnen und Juden, von denen viele Ladino sprachen, nach Auschwitz deportiert und ermordet. „Danach drohte die Sprache in Vergessenheit zu geraten“, erklärte Lidor Mesika. „Heute gibt es auf der ganzen Welt Leute, die versuchen, das Ladino am Leben zu erhalten. Mit meinem Ensemble ‚Los Ladinos‘, das ich 2019 gegründet habe, will ich meinen Teil zum Überleben der Sprache beitragen.“

Link-Tipps:  https://youtube.com/@Lidor_Ram_Mesika , https://youtube.com/@losladinos9311